7. VERSCHWINDEN

Der 7. Tischtag war der erste Tischtag im Freien. Einer der vielen leeren Sockel rund um die Berliner Philharmonie dient uns als Tisch, um die Gesprächsartefakte zum Thema VERSCHWINDEN auszubreiten.

Andreas Schmid legt ein grob gerastertes „Übungstuch“ aus, auf dem er mit einem in Wasser getauchten Tuschepinsel mit geübter Hand chinesische Schriftzeichen setzt, die nach kurzer Trocknungszeit wieder verschwinden. Er erzählt von einem Kollegen, der ebenfalls mit einem Wasserpinsel, aber diesmal auf Stein, Tagebucheintragungen – oder -auftragungen – macht. Diese flüchtigen, inhaltstragenden Spuren prägen gerade durch ihre Flüchtigkeit das Gesagte deutlicher ein, als ihre beständigen Geschwister.

Christiane ten Hoevel legt mit jedem Schlag an eine Klangschale ein transparentes Blatt mit einem Wort auf den Sockeltisch. Nach und nach ergänzen und überlagern sich die Wörter zu dem Satz: „Was passiert, wenn der Wind uns erreicht?“ Die Töne der Schale verklingen jedes mal langsam und verschwinden in den Geräuschen des Umfeldes. Die nahe Kirchenglocke am Kulturforum mischt sich klanggewaltig in dieses zarte Geschehen ein. Jemand stellt die Frage: „Wo geht der Wind ins Bett?“

Maren Krusche bringt Objekte mit, die an Organe erinnern, und die freihängend gedacht, die Frage nach den menschlichen Sinnen stellt. Von ihrem eigenen Körper ausgehend baumeln sie an Schnüren, als seien sie Früchte am Baum. Ob sie in Ablösung begriffen sind oder eher gebunden an die Trägerin, ist nicht genau zu sagen. Gleiches gilt für die gezeigten Malereien, die zwischen scharf stellen und unscharf werden in einem vagen Brennpunkt eingefroren sind.

Adib Frickes Fotoserie ist aus dem fahrenden Zug heraus entstanden. Beliebig erscheinende Stadtlandschaften werden zu Stills eingefroren und entziehen sich dank des Zufalls jeglicher gestalteter Komposition. Die darauf platzierten Worte und Fragen wie z.B. „What do I know about ist?“ intensivieren den Flirt mit der Banalität. Beide Ebenen, Wort und Bild, entziehen jegliche geübte Bewertungsgrundlage und verlangen eine wertfreie Neubetrachtung der ständig an uns vorbeiziehenden Bildrealität.

Nanaé Suzuki nimmt Georges Perecs Roman „Anton Voyls Fortgang“ zur Handlungsvorlage und entfernt aus Straßenschildern die E und die A. Die verschwundenen Vokale hinterlassen Wortbruchstücke, die nur zum Teil noch als die altbekannten Namen zu erkennen sind. Das Suchen nach der ehemaligen Benennung verschwimmt mit dem Fabulieren über zukünftige Ergänzungen und Bedeutungen.

Dorothee Bauerle-Willert, die als sprachgewaltige Akteurin bisher jeden Tischtag begleitet hat („Ich beitrage die ganze Zeit“), zeigt eine kurze Sequenz aus Kindertagen: das Guckguck-Dada-Spiel, bei dem Kinder die Augen vor Händen halten und im nächsten Moment wieder offen schauen. Es ist für sie ein kurzfristiges Verschwinden aus der Welt, die die Frage: „Gibt es mich noch, wenn ich die Welt nicht sehe?“ mit nein beantwortet. Die visuelle Wahrnehmung wird hier zum Garant für die eigene Existenz.

Den Abschluss macht Eva-Maria Schön mit zwei weißen Luftballons: einer, vor Ort von ihr aufgeblasen, fällt zu Boden und lässt sich vom Wind über den Platz treiben. Den anderen, heliumgefüllten, entlässt sie ohne große Vorrede in die Freiheit. Fast wie ein eigenes Wesen, sich an der neu gewonnenen Freiheit freuend, fliegt er immer kleiner werdend davon, bis er ganz verschwunden ist.

Berlin, vor der Philharmonie, April 2021